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Monolog Typografie

Twitter und das oberflächliche Versal-Eszett

Custom Fonts sind bei Unternehmen aktuell wieder sehr hoch im Kurs. Und das zu Recht: Warum etwas von der Stange nehmen, wenn man sich mit dem nötigen Kleingeld einen komplett eigenen, maßgeschneiderten Schriftsatz anfertigen lassen kann?

Genau das hatte sich Twitter wohl auch vor einiger Zeit gedacht und im letzten Jahr, gemeinsam mit einem neuen visuellen Kommunikationskonzept, ihre neue Hausschrift Chirp auf die Welt losgelassen.

Der Aufschrei unter den Nutzer:innen war natürlich groß – wie bei allen Veränderungen. Da bekam ich direkt ein kleines Déjà-vu an die ganz alten Tage, wo Twitter sich 2014 erlaubt hat ihre damalige Hausschrift Gotham als Webfont für das Twitter-Frontend einzusetzen.

Ich war scheinbar der einzige Nutzer, dem diese Änderung gefiel. Umso trauriger war ich, als man einige Monate später die Rolle rückwärts gerissen hat und wieder auf den Standard-Webfontstack rund um Helvetica, Arial und Co. zurückruderte.

Da bleibt jedenfalls für das Markenbild zu hoffen, dass das mit Grilli Types neuestem Sprössling nicht wieder passieren wird.

Die haben doch ’nen Vogel

Der größte Vorteil an einer eigenen Schrift – neben dem Vermeiden von visueller Austauschbarkeit – ist die Möglichkeit so ziemlich alles an Spielereien und Finessen mit einbauen zu können.

Die prominenteste davon in Chirp ist das Twitter-Vogel-Symbol, das sich durch das Schreiben von [CHIRPBIRDICON] in den eigenen Tweet zaubern lässt. Dahinter steckt eine ganz einfache Ligatur, die normalerweise dafür sorgt, dass Zeichenkombinationen wie „fi“ und „fft“ durch einen eigens dafür angefertigten Verbundbuchstaben hübscher dargestellt werden.

Unterschiedliche Ligaturtypen im Vergleich am Beispiel der Schrift FF Unit.

Glaubt aber nicht, dass ihr damit eure kostbaren 280 Tweet-Zeichen einsparen könnt. Nicht nur, weil Chirp keine klassichen Ligaturen beinhaltet – technisch schon, aber gestalterisch machen sie keinen Unterschied zu den normalen Buchstabenkonstellationen.

Denn wie für Ligaturen üblich, bleibt der eigentliche Textinhalt und seine Zeichenanzahl gleich. Lediglich wird durch die anzeigende Software – sofern sie dieses Feature beherrscht – das gewünschte Alternativzeichen an dessen Stelle dargestellt.

Und scheinbar ist es nicht nur bei dieser kleinen technischen Spielerei geblieben, wie ich vor einigen Wochen durch Zufall beim Absetzen einer Reply festgestellt hab.

Die VERSALzene Suppe

Da ich hin und wieder bestimmte Moods (#ausGründen™) im Versalsatz ausdrücken muss, sorge ich natürlich konsequent für den korrekten Einsatz des großen Eszetts „“, wenn die Schrift es denn auch hergibt.
(Mein Blog-Webfont FF Unit Rounded kann es zum Beispiel leider nicht)

Aus Ermangelung an offiziellen Tastaturkürzeln habe ich mir mithilfe der Textersetzung von macOS einen eigenen Weg dafür gebastelt: Durch Tippen von zwei kleinen Eszetts hintereinander, lasse ich mir diese automatisch durch das große Pendant austauschen.

Diese Textersetzungen klappen oftmals nur mit einem Leerzeichen davor und nicht mitten im Wort, doch das vergesse ich gerne im Eifer des Tweet-Gefechts. Somit begegneten mir beim ersten Versuch direkt zwei versale Eszetts in meinem Tweet.

Ich konnte erst nicht so ganz glauben, was mir da gerade ins Auge gestochen ist. Nach einigem Rumprobieren hab ich festgestellt, dass sobald man zwei Großbuchstaben hintereinander geschrieben hat, aus einem normalen kleinen Eszett ein Großes wird.

Zunächst war ich mir nicht sicher, ob es sich hier vielleicht um ein neues macOS-Feature handelt. Nachdem ich dies mit einigen Tests definitiv ausschließen konnte, musste es ja irgendwas tolles neues im Twitter-Webclient selbst sein.

Kleines Eszett im Versalsatz:
Wer bitte macht sowas?!

Sehr erfreut über diesen Fakt hab ich mir dann nicht mehr viel dabei gedacht, meinen Tweet auf den Weg gesetzt und mich weiter meinem Alltag gewidmet. Bis mir meine Apple Watch eine Reaktion auf ebendiesen Tweet gepusht hat …

Da offenbarte sich direkt das Geheimnis hinter der Methode: In der Notification auf meinem iPhone und der Watch zeigte sich eindeutig ein kleines Eszett inmitten meines Versalsatzes.

Damit war mir sofort klar, dass das große Eszett lediglich äußerlich Anwendung finden muss. Aber wie? Irgendwelches JavaScript-Voodoo konnte ich fast schon ausschließen – als ob Twitter nur für uns Deutsche solche extra Mühen anstellen würde. Es musste also irgendwo im Font selbst liegen.

Ein Blick unter die Haube

Jetzt wollte ich unbedingt wissen, was hinter der automatischen Ersetzung steckt und hab mir ein wenig die Webfont-Datei angeschaut.

Das Öffnen von Font-Software in entsprechenden Editoren kann durch die Lizenzbestimmungen der jeweiligen Schriftverlage untersagt sein.
Ich habe es hier zu reinen Recherche- und Lernzwecken getan und die verwendeten Schriftdaten nach Veröffentlichung des Beitrags gelöscht.

Und tatsächlich wird scheinbar über das Feature „calt“ – also Kontextalternativen – dafür gesorgt, dass das kleine Eszett immer durch ein Großes getauscht wird, wenn zwei oder mehr Versalglyphen ihm vorangestellt werden.

Genau wie bei Ligaturen ist diese Veränderung rein „kosmetisch“ und passiert nur innerhalb des jeweiligen Font-Renderings. Wenn man den Textinhalt kopiert und woanders einsetzt, bekommt man weiterhin den originalen Inhalt mit dem kleinen Eszett serviert.

Ist das nun der richtige Weg?

Einerseits ist es schön, dass man sich in irgendeiner Form Gedanken gemacht hat, wie man das große Eszett zugänglicher machen kann. Auch wenn man sich durchaus darüber streitet, wie sehr man dieses Zeichen überhaupt gebraucht hat.

Andererseits stellt sich mir aber auch die Frage, wer eigentlich so eine ungewöhnliche Anforderung ins Lastenheft von Chirp geschrieben hat? War es Grilli Type selbst, oder wollte Twitter damit allen deutschsprachigen Nutzer:innen einen Mehrwert bieten?

Eigentlich würde ich Grilli die entsprechende Kompetenz zuweisen, um zu wissen, dass so eine rein oberflächliche Methode das Problem des noch recht unpraktisch zu schreibenden und daher wenig verbreiteten Buchstaben nicht lösen kann und wird.

Im Gegenteil sorgt es ja eher dafür, dass am Ende grammatikalisch falsche Tweets in Umlauf geraten, ohne, dass es der Absendende überhaupt merken kann. So, wie es eben bei mir eben auch der Fall war.

Aber ob es überhaupt die durchschnittliche Rezipient:in merkt, darf auch mehr als anzuzweifeln sein.

Das Versal-Eszett ist eben für uns alle auf jeden Falls eines: #Neuland


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